Literaturnobelpreis 1985: Claude Simon

Literaturnobelpreis 1985: Claude Simon
Literaturnobelpreis 1985: Claude Simon
 
Simon wurde für seine Romane ausgezeichnet, in denen er das Schaffen eines Dichters und Malers mit einem vertieften Zeitbewusstsein in der Schilderung menschlicher Grundbedingungen vereint.
 
 
Claude Simon, * Antananarivo (Madagaskar) 10. 10. 1913; Studium der Malerei, in den 1930er-Jahren Reisen durch verschiedene europäische Länder und die Sowjetunion, Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Republikaner und im Zweiten Weltkrieg am französischen Widerstand, nach dem Krieg Winzer im Südwesten Frankreichs und zeitgleich Beginn der Karriere als Romanautor.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Die Entscheidung des Nobelpreiskomitees für den französischen Romancier Claude Simon gehörte nicht zu den erwarteten und weithin mit Beifall bedachten. In seiner Rede zur Verleihung des Preises geht Simon etwas beleidigt auf das öffentliche Echo ein. So habe die »New York Times« vergeblich nach Kritikern gesucht, die zu einer Stellungnahme zu dem neuen Preisträger bereit oder in der Lage gewesen seien. Währenddessen hätten die französischen Medien fieberhaft nach Informationen über ihn gesucht, wobei nichts anderes herausgekommen sei als fantastisch verzerrte biografische Details. Den literarisch gesehen schwer wiegenden Vorwurf, seine 14 Romane seien schwierig, langweilig, unlesbar und konfus, pariert Simon recht selbstbewusst mit dem Hinweis, dies sei noch das Schicksal eines jeden innovativen Künstlers gewesen.
 
 Würdigung des »nouveau roman«
 
Die Entscheidung für Simon ist auch als Würdigung des »nouveau roman« zu verstehen, eine Bezeichnung, die zu Beginn der 1950er-Jahre von dem Kritiker Roland Barthes ins Spiel gebracht wurde, um eine gewisse Richtung der aktuellen französischen Literatur zu benennen, und die von Alain Robbe-Grillet zum literarischen Markennamen geprägt wurde. Neben ihm und Simon gelten Natalie Sarraute, Marguerite Duras und Michel Butor als bedeutendste Vertreter des »nouveau roman«. Seine Ästhetik lässt sich am leichtesten negativ beschreiben als Abwendung von der Tradition des herkömmlichen Romans, wie er sich im 19. Jahrhundert durchgesetzt und die Lesergewohnheiten geprägt hatte, aber auch von der »engagierten Literatur«. Dabei schließt der »nouveau roman« an das Erbe der ästhetischen Moderne von Proust, Joyce oder Faulkner (Nobelpreis 1949) an. Es wird auf einen linearen Handlungsaufbau, auf die psychologische Motivation der Handlung, auf eine einheitliche Erzählperspektive und meist auch auf eine politisch-moralische Aussage verzichtet. Zugleich tritt die Autorintention zugunsten der Selbstbezüglichkeit des Schreibprozesses zurück. Die Worte ballen sich zu Motiven zusammen, die sich durchdringen, auflösen, neu zusammenfinden, sich wechselseitig infizieren.
 
Während die Kontur der handelnden Personen schemenhaft bleibt, sie nie den Status von Charakteren gewinnen, rücken die Dinge in den Vordergrund, genauer die sinnlichen Eindrücke, die sie hinterlassen. Charakteristisch ist die fotografisch genaue Beschreibung meist schlichter Objekte — etwa von Grashalmen in »Das Gras« (1958) —, wobei die Dinge eine spezifische Autonomie gewinnen, eine von Sinn- und Realitätsbezügen weitgehend befreite Objektivität. Zu Beginn von »Die Straße in Flandern« (1960) wird immer wieder der Kadaver eines Pferdes am Straßenrand beschrieben, an dem eine Gruppe von Soldaten mehrmals vorbeikommt. Es entsteht der paradoxe Eindruck einer immobilisierten Bewegung — »Achille immobile à grands pas« (Achilles mit weiten Schritten auf der Stelle tretend), wie Simon sagte. Mit der Konzentration auf die sinnliche Erscheinung, hinter der die Handlung zurücktritt, hängt Simons indirekte Erzählweise zusammen. So suggeriert der Klang von Regentropfen beziehungsweise der eines vorbeifahrenden Zugs das Sterben von Georges' Tante in »Das Gras«.
 
Charakteristisch für Simons Romane ist neben einer dem »nouveau roman« sonst fremden historischen Perspektive auch eine deutliche autobiografische Prägung der äußeren Umstände (Personen, Schauplätze, Ereignisse). So ist der Roman »Der Palast« (1962) in Barcelona zur Zeit des spanischen Bürgerkriegs angesiedelt, an dem auch Simon auf der Seite der Republikaner teilgenommen hatte. Georges, der »Held« (wenn man ihn so nennen darf) in »Die Straße in Flandern«, den man bereits aus »Das Gras« kennt, teilt zumindest seine äußeren Erfahrungen mit dem Autor, der den militärischen Zusammenbruch Frankreichs im Frühjahr 1940 als Kavallerieoffizier erlebte und anschließend in Gefangenschaft geriet.
 
Simons Vorliebe für autobiografische Sujets scheint seiner antipsychologischen, »objektivistischen« Schreibweise zu widersprechen. Doch die Erfahrung des Kriegs besitzt wie auch die Erotik (ebenfalls ein wiederkehrendes Motiv bei Simon) Qualitäten, die sich hervorragend in sein ästhetisches Konzept einfügen. Der Krieg wirft Planungen über den Haufen, bringt Handlungsvollzüge durcheinander, fragmentiert die Wahrnehmung, erschwert die sinnvolle Einordnung einzelner Begebenheiten in einen Sinn- oder Geschehenszusammenhang und erschüttert den Glauben an eine Kontrollierbarkeit der Ereignisse durch das Subjekt.
 
 Simons Schaffensperioden
 
Die Sprache, so weiß Claude Simon, »ist — ob man will oder nicht — immer zugleich Vehikel und Struktur, nur die Dosierung variiert«. Nach den Anteilen von konventioneller, auf eine außerliterarische Realität verweisenden, Sinn tragenden Sprache auf der einen und einer Sprache, die als Formelement des künstlerischen Ausdrucks sich selbst genügt, lassen sich Perioden in Simons Werk unterscheiden.
 
Die ersten Romane von »Le Tricheur« (1946) bis zu »Das Frühlingsopfer« (1954) sind noch in traditioneller Weise angelegt mit einer nachvollziehbaren Handlung und Charakteren, die sich der üblichen Psychologie literarischer Figuren erschließen. Mit »Der Wind« (1957) deutet sich die Abwendung vom Bemühen an, den Leser auf das Verfolgen einer »Geschichte« zu verpflichten. Dieser Roman war der erste von Simon, der in den Editions de minuit, dem Hausverlag von Autoren des »nouveau roman« erschien. Mit den folgenden Büchern »Das Gras«, »Die Straße in Flandern« und »Der Palast« wird Simon zu einem weithin anerkannten Vertreter des zeitgenössischen experimentellen Romans. »Die Schlacht bei Pharsalos« (1969) bezeichnet den Beginn der so genannten »formalistischen« Periode, unter die auch »Triptychon« (1973) und »Anschauungsunterricht« (1975) fallen. Bilder und Handlungen sind jetzt nur noch Auslöser für rein sprachliche Prozesse: für das Spiel der Worte, Bedeutungen, Metaphern und Assoziationen. Simons kunstvolle »ars combinatoria« erschließt sich dem Leser freilich nur schwer. Mit »Georgica« (1981) nähert sich Simon dann wieder seiner zweiten Periode.
 
Die Rezeption Simons in literarischen Kreisen wurde durch den Umstand begünstigt, dass sich seine im Kern beständige, in der Akzentuierung der Elemente jedoch wandelbare Schreibweise mit den wechselnden theoretischen Moden seiner Zeit vereinbaren ließ: mit der avantgardistischen Literaturkritik eines Barthes in den 1950er-Jahren, mit dem phänomenologischen Interesse an Wahrnehmung, Erinnerung und Imagination während der 1960er-Jahre, mit der strukturalistisch-formalistischen Literaturtheorie, die seit den späten 1960er-Jahren an Einfluss gewann, und mit den postmodernen, dekonstruktivistischen Theorie, die die 1980er-Jahre dominierte. Ein breites Publikum konnte Simons ausdrucksarme Konzeptliteratur jedoch nicht gewinnen.
 
J. Zwick

Universal-Lexikon. 2012.

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